Sehnsucht

Aus der Werkstatt-Gazette No. 3

Katrin Moser und Verena Fink - 08. 11. 2011

"Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Leute zusammen um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen - sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer." (Antoine de Saint-Exupéry zugeschrieben)

 

Warum schreibt niemand über die Sehnsucht im Zusammenhang mit Bildung? Sie könnte doch eine Grundlage sein um Kinder und Jugendliche zu motivieren, zu begeistern und zum selbstständigen Denken zu erziehen...!


In der Arbeitswelt werden immer spezifischere Fachkräfte gesucht, die Studiengänge werden zwar verkürzt, immer spezieller an den Markt angepasst und aus dem Zeitmangel in den Schulen und Universitäten resultieren dann junge Menschen, die sich in bestimmten Bereichen hervorragend auskennen, denen jedoch ein Überblick über die Zusammenhänge meist fehlt. Und natürlich fehlt die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem Zusammenhang, die Sehnsucht nach der Weite, nach dem, was sich dahinter noch alles versteckt sein könnte.


Wie können wir die Sehnsucht wecken? Wie verhält es sich überhaupt mit der Sehnsucht heute? Ist sie größer geworden als früher? Geringer? Und wonach sehnen wir uns? Wonach sehnen sich unsere Kinder, die ja der Spiegel der Gesellschaft sind? Oder haben wir verlernt, uns nach etwas zu sehnen, weil die sofortige Befriedigung von Bedürfnissen Teil unseres Lebens geworden ist? Und was ist es, womit wir uns entwickeln können? Sehnsucht oder der Mangel an Sehnsucht?


Erziehung im lebensfördernden Sinne findet immer dann statt, wenn ein Freiraum geboten wird, in dem sich etwas entwickeln kann, findet immer dann statt wenn dem Kind nicht alles sofort erfüllt wird. „Verwöhnung basiert auf großen Selbstzweifeln, äußert sich als Angst und daraus resultierendem fehlenden Zutrauen, verhindert ein Aufgreifen von Herausforderungen, manifestiert eine substanzielle Entmutigung gegenüber eigenständigem Wachstum mit der Folge einer reduzierten Lebensqualität, führt auf Dauer zu einem gestörten Gemeinschaftsbezug und macht letztlich abhängig und einsam.“

(Wunsch, Albert: Die Verwöhnungsfalle. Für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit. München 2000)


Wie kann also eine Erziehung im lebensfördernden Sinne aussehen, damit das Kind einen festen Rahmen hat, in dem es sich als Persönlichkeit entwickeln und in dem es beginnen kann, sich zu sehnen und zu suchen?


Kinder benötigen:


» Grenzen

Darin äußert sich das Bedürfnis der Kinder nach Ordnung, Struktur und Regeln im Leben
 » Kindsein

Das Bedürfnis der Kinder nach Aufmerksamkeit als Individuum und als Kind, das als solches dezidiert nicht Partner der Erwachsenen sein kann
» Explorieren

Das Bedürfnis der Kinder nach Wissen, Lernen, die Sehnsucht nach dem Ausprobieren und Versuchen, nach dem Scheitern und neu entdecken
» Herausforderungen

Die Sehnsucht der Kinder nach echten Erfahrungen und Kompetenzen, nach realem Erleben und Entwickeln
» Gestalten

Der Wunsch der Kinder nach individuellem Ausdruck und somit nach selbstbewusstseinsförderndem Schaffen
» Interaktion

Die Sehnsucht der Kinder nach Gemeinschaft, nach einem Miteinander. Das Bedürfnis, Teil eines größeren Ganzen zu sein.

» Gegenü̈ber

Das Bedürfnis der Kinder nach einem erwachsenen Gegenüber, der den Rahmen zum Heranwachsen und Entwickeln schafft


Wenn diesen Grundsehnsüchten der Kinder nachgekommen werden kann, so können sie frei werden, sich nach dem zu sehnen, was sie auch als Erwachsene hoffentlich immer wieder suchen werden: nach etwas „anderswo Seienden und Abwesenden“

(Vgl. Platons Beschreibung von πόθος. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sehnsucht Bd 9)

 

Alle Entwicklung, alles Suchen, alle Erinnerung und alles Entstehende basiert darauf. Nicht nur Fertigkeiten, Fähigkeiten, Kenntnisse und Handwerk sind es, die die Menschen sich entwickeln lassen, sondern die Sehnsucht nach Entwicklung, nach dem eigenen Weg, der nicht immer mit dem „der anderen“ konform gehen muss.


Kinder – bereits die ganz kleinen – gestalten und formen, lernen und entwickeln den ganzen Tag lang. Sie erfinden eine eigene Welt, schaffen sie aus ihrer Phantasie. „Und die phantastische Welt der Kinder: Ist sie nicht mindestens so real wie ihre Träume und unsere Wünsche, unsere unbewussten Ängste, unser unbewusster Zorn und unsere unbewusste Liebe? Natürlich ist sie das. In dieser vom Kind geformten Welt, mag sie noch unfertig erscheinen, spiegelt sich dies alles. Unsere seelische Realität, die Wirklichkeit unserer Träume, die Wirklichkeit unserer Hoffnungen.“

(Bergmann, Wolfgang: Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den Förderwahn in der Erziehung. München 2011. S.25)


Lassen wir unseren Kindern ihre Sehnsüchte – damit sie von sich aus das tun werden, was wir in all unserer Förderversuchen beginnen: damit sie sich entwickeln, selbständig werden und lernen, was sie für ihr Leben benötigen.