Trash Art

Aus der Werkstatt-Gazette No. 9

Katrin Moser und Verena Fink - 03.06. 2013

Gibt es so etwas wie Müll-Kunst? Sind Kunst und Müll nicht eigentlich zwei
unvereinbare Phänomene? Hier die schöne und glanzvolle, dort die dunkle und schmutzige Seite des Lebens?


Geschichte des Abfalls
Die Begriffe Abfall und Müll sind noch relativ jung. Mit der Industrialisierung tauchte der Begriff Abfall im Jahr 1889 in Meyers Konversationslexikon zum ersten Mal im Zusammenhang von Produktion und Fabrikation auf. "Haben Objekte für ihren Besitzer den Wert oder Nutzen verloren, so werden sie von ihm als Abfall entsorgt. Hierbei ist zwischen Abfall und Müll zu unterscheiden. Während der Begriff Müll negativ besetzt ist und fürvöllige Unbrauchbarkeit steht, ist Abfall ein neutraler Oberbegriff, der eine mögliche Wiederverwertung nicht ausschließt. Die Aussonderung unbrauchbarer Dinge und ihre Verdrängung in nicht sichtbare Gebiete steht in Zusammenhang mit der kulturellen Unterscheidung zwischen Ordnung und Unordnung."  (Wassermann, Sarah http://artemak.hfg.edu/index.php/Begriffe: Abfall. Stand: Mai 2013)


Betrachtet man die Geschichte des Abfalls, lässt sich feststellen, dass insbesondere die Entwicklung von der Mangel- zur Konsumgesellschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts einen entscheidenden Umbruch darstellt. Wurde in der Mangelgesellschaft noch alles bis zur völligen Unbrauchbarkeit wiederverwertet, so dass relativ wenig Abfall anfiel, kam es durch die zunehmende Warenproduktion der Konsumgesellschaft zu einem immer größer werdenden Abfallaufkommen. Die industriell preiswert hergestellten Waren wurden für den Verbraucher so billig, dass sich ganz neue Verhaltensweisen entwickelten. “Ex und hopp” wurde zum Schlagwort für Einwegware, die einmal verwendet und dann weggeworfen wurde. Somit wuchs die Abfallmenge ähnlich stark an wie der Rohstoffverbrauch. Heute ist man sich weitgehend darüber einig, dass Müll oder Abfall eine Frage des Standpunktes ist. Die gesellschaftliche Vorstellung was Müll ist, setzt Wertvorstellungen und Grenzziehungen voraus. Mit diesen Grenzziehungen und Wertvorstellungen spielt nun die so genannte Müllkunst, deren eigenste Elemente Müll und Abfall sind.

"Die Geschichte der Kunst ist auch eine Geschichte ihres Materials. Noch heute bewundern wir die täuschend echten Darstellungen von weichem Samt, fließender Seide, glitzerndem Glas, funkelnden Steinen, kostbaren Perlen und auch die fühlbar natürliche Oberflächenbeschaffenheit so mancher Zitronen-, Apfel- oder Orangenschale, die uns in den Stilleben des 17. Jahrhunderts begegnen. Anfang des 20. Jahrhunderts begann sich das Diktum, Materialien nur als Mittel zum Zweck einzusetzen, allmählich ins Gegenteil zu verkehren. Neben den tradierten Materialien wie der Farbe, verschiedenen Holzarten, Gold, Silber, Marmor und Bronze, wurden nun nicht nur neue Materialien wie Beton, Styropor, Plastik etc., sondern auch bereits gebrauchte und weggeworfene Dinge des Alltags ins künstlerische Spiel aufgenommen. Dies war ein sehr entscheidendes Ereignis in der Geschichte der modernen Malerei, welches das Material, insbesondere den Abfall ins Zentrum künstlerischer Praxis katapultierte." (Kranz, Margarete: Die Ästhetik des Abfalls. http:// www.uni-hamburg.de/volkskunde/Texte. Stand: Mai 2013)


Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde auf allen Gebieten der Kunst (in der Musik, der Literatur oder in der bildenden Kunst) nach neuen Formen des künstlerischen Ausdrucks gesucht. Im Futurismus, Kubismus, Surrealismus und vor allem im Dadaismus wurden die herkömmlichen Malmaterialien durch Alltagsdinge, ob neu oder alt, ganz oder fragmentarisch, erweitert und ersetzt. Gerade nach den schockierenden Ereignissen des ersten Weltkrieges suchten viele Künstler nach Möglichkeiten, nicht nur die Kunst, sondern auch die Geschichte neu aufzubauen, fernab der tradierten Konventionen. Im Abfall erkannten sie ein geschichtliches und kulturelles Zeugnis, das zu diesem Neuaufbau beitragen konnte.


George Braque und Pablo Picasso zählten zu den ersten Künstlern, die um die Jahre 1912/13 ihre kubistischen Gemälde mit Alltagsdingen (so genannten Realitätsfragmenten) bereicherten. Auch Kurt Schwitters, der als eigentlicher "Vater" der Mü̈llkunst gilt, las alles was ihm begegnete von der Straße auf und baute die weggeworfenen und gefundenen Dinge (wie Zeitungsfetzen, Straßenbahnkarten, rostige Nägel, Lebensmittelkarten, Stoffreste) in seine Bilder ein. "Ich sah nämlich den Grund nicht ein, weshalb man die alten Fahrscheine, angespülte Hölzer, Gaderobennummern, Drähte und Radteile, Knöpfe und altes Gerümpel der Bodenkammern und Müllhaufen nicht ebenso gut als Material für Gemälde verwenden sollte, wie die von Fabriken hergestellte Farbe [...]" (Kurt Schwitters, zitiert nach www.trenntmagazin.de, Stand: Mai 2013)

Die Fundsachen hatten für Schwitters nichts mit Abfall zu tun, sondern waren zunächst nur Elemente seines individuellen künstlerischen Spiels. Nach dem Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise bekamen die Materialcollagen, die Schwitters als Merzbilder bezeichnete, auch eine politische Bedeutung: Aus Sparsamkeit nahm er dazu, was er fand, denn Deutschland war ein verarmtes Land. "Man kann auch mit Müllabfällen schreien", wird Schwitters zitiert. Waren es bis dato die Materialien, die den Wert eines Kunstwerkes bestimmten, kam es nun durch die Verwendung von Weggeworfenem in den Kunstwerken zu Irritationen. So wurden die heute weltberühmten Merzbilder Schwitters tatsächlich als Müll deklariert und hatten auf der großen Bühne der Kunst eine geraume Zeit keinerlei Bedeutung da man der Zusammenstellung von alten Knöpfen, verrosteten Drähten oder aufgelesenen Papieren keine Wertigkeit beimaß.


Müll im Überfluss
Als sich Ende der 50er Jahre Europa von den Kriegsfolgen und der Mangelwirtschaft erholte und einer Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs und Wohlstands entgegen sah, begann Abfall in der Kunst eine neue Rolle zu spielen. Die Zunahme des Abfallwachstums entsprach dem ständig zunehmenden Tempo von Produktion und Konsum. Der produzierte Überschuss an Abfallmaterialien inspirierte Künstler neu. Im Nouveau Réalisme und der Junk Art zeigte sich nun ein freierer und radikalerer Umgang mit Abfall in der Kunst. Nicht mehr individuelle Stücke Abfall wurden aufgelesen wie bei Schwitters, sondern man stellte Abfall unmittelbar zur Schau, um somit den Überfluss an Abfall in der Konsumgesellschaft zu verdeutlichen. So schichtete beispielsweise Arman Fernandez Straßenkehricht in Glaszylinder (Akkumulationen von Haushaltsmüll), Robert Rauschenberg stapelte gepresste Autos, Ilja Kabakov sortierte und beschriftete jahrelang jedes Stück Papier in seinem Leben für die Installation „Mann, der niemals etwas wegwarf“ und Daniel Spoerri verarbeitete in seinen Fallen-Bildern Abfälle von Mahlzeiten. Es war der Schritt nicht mehr Abfall in der Kunst, sondern Abfall als Kunst zu betrachten.


Der chinesische Künstler Song Dong stellte im MoMA den kompletten über 50 Jahre gesammelten Hausrat seiner Mutter aus, eine Installation aus hunderten leerer Plastikflaschen, -bechern und Dosen. Mit dem steten Anstieg der Abfallberge zum Ende des 20. Jahrhunderts wird nun vor allem auch der umweltpolitische Aspekt des Abfalls in der Kunst aufgegriffen und mit den Werken eine konsum- und sozialkritische Haltung eingenommen. Abfälle erzählen nun nicht mehr ihre eigene Geschichte, sondern sind Material für figurative Arbeiten. Kunstvoll drapierte Müllhaufen, die Schattenriss-Figuren ergeben (Tim Noble und Sue Webster), Porträts aus Plastikmüll (Zac Freeman) oder Landschaftsbilder und Stillleben aus allen Arten Abfall (Tom Deininger).


Kann Kunst das Müllproblem lösen? Sicher nicht. Aber die Kunst gibt der Ausweitung des Mülls einen Ort, an dem er nicht verschwinden muss. Sie ermöglicht ihm neue Sinnzusammenhänge und damit veränderte Wahrnehmungs-Möglichkeiten. Sie lässt ihn in andere Bereiche und dadurch ins gesellschaftliche Bewusstsein eindringen.