Erziehung zur Selbständigkeit

Aus der Werkstatt-Gazette No. 12

Katrin Moser und Verena Fink - 12.05.2014

Was ist Selbstständigkeit?

Das Wort Selbst steht für alleiniges Handeln, nicht durch Unterstützung oder auf Anregung von Fachpersonal, ständig für ein immer wiederkehrendes Handeln, ausgelöst durch Eigenmotivation und Fremdmotivation

Als Selbstständigkeit bezeichnet man die Möglichkeit, die Fähigkeit, die Bereitschaft und die Pflicht für das eigene Handeln, Reden und Unterlassen Verantwortung zu tragen. Das bedeutet, dass man für sich selbst sorgt, dass man für die eigenen Taten einsteht und die Konsequenzen dafür trägt, bei allem wofür man sich entscheidet.

 

Kinder sind als Säuglinge zunächst hilflos und von Erwachsenen abhängig. Jedwelcher Schutz kann nicht aus ihnen heraus geschehen, sondern muss durch uns gegeben werden. Doch schnell beginnen Kinder sich zu entwickeln, zeigen aus sich heraus das (angeborene) Bedürfnis zu Selbstbestimmung und zu mehr und mehr Selbständigkeit.

 

Dieses Bedürfnis nach Selbständigkeit löst vielfältige Aktivitäten aus. Schon das Kleinkind will demnach seinen Bereich erkunden, will alles, was ihm in die Hände fällt, 'begreifen' und damit umgehen, um es in sein Weltbild einzuordnen bzw. sein Weltbild dadurch zu erweitern und zu differenzieren.

Indem das Kind nach seinen Vorstellungen mit den Dingen umgeht, sie ordnet, zusammenfügt, zerlegt usw., fühlt es sich als Verursacher vieler für sich selbst wichtiger Ereignisse. Das Kind erfährt, dass es etwas bewirken kann, dass es die Umwelt in einem gewissen Grad nach eigenen Wünschen zu beeinflussen und zu gestalten vermag. Es erfährt auch Widerstände und lernt im besten Fall auch, wie es damit umgehen kann.

 

Selbstständigkeit bedeutet Unabhängigkeit. Das heißt auch, dass Eltern und alle anderen Erziehenden die Kinder loslassen müssen. Natürlich geschieht das nicht abrupt und auch nicht im Sinne von fallen lassen, sondern allmählich und im Sinne von Freiraum gewähren. Die Erziehung zur Selbstständigkeit ist eine Gratwanderung: Es gilt, die Mitte zu finden zwischen überbehütendem Festhalten und (plötzlicher) Überforderung.

Die Befähigung des Kindes in die Selbstständigkeit und die schrittweise Entlassung in die Eigenverantwortlichkeit stehen in einem engen Zusammenhang.

Ohne Möglichkeiten zu solchen eigenen Erfahrungen in verschiedensten Bereichen und zur selbstständigen und produktiven Bewältigung von Aufgaben können Kinder keine eigenständige Persönlichkeit entwickeln.

 

Selbständigkeit ist spätestens seit der Reformpädagogik eines der wichtigsten Erziehungsziele. Für die reformpädagogische Bewegung stand die Freiheit und Autonomie des Individuums im Mittelpunkt der pädagogischen Bemühungen.

So war beispielsweise für Maria Montessori das Ziel aller Erziehungsbemühungen die aktive Förderung kindlicher Unabhängigkeit und Selbständigkeit durch Selbsttätigkeit.

In der Montessori-Pädagogik hat das Kind ein Recht auf Spontaneität und freie Entfaltung. Das Kind lernt (zum Erstaunen vieler Erwachsener) in dieser Freiheit.

Es lässt sich nicht stören und nicht ablenken und braucht nur wenig die Einmischung durch den Erwachsenen. Was das Kind in seinem Lernen immer wieder fordert und was ein Leitsatz der Montessori-Pädagogik ist, heißt: "Hilf mir, es selbst zu tun". Damit meint das Kind, dass es gezeigt bekommen möchte wie etwas geht, selbst erfahren und ausprobieren, allerdings nicht abgenommen bekommen möchte was es tut. Dass das Kind Fehler machen wird und darf, diese erkennen und selbst korrigieren möchte ohne dass der Erwachsene sofort korrigierend eingreift.

Der Erwachsene soll dabei geduldig sein, die Wege des Kindes versuchen zu begreifen, die Versuche und Übungen zu sehen und zu begleiten.

 

Dies auszuhalten ist die Aufgabe von uns als Erwachsene. "Auszuhalten" deswegen, weil es oft dem Zeitdruck, den wir mitbringen entgegensteht. Weil wir oft zu bequem sind, um mit den Kindern immer und immer wieder zu üben. Weil wir ein schlechtes Gewissen haben und unsere Kinder verwöhnen wollen oder das Bedürfnis haben, gebraucht zu werden. Und auch die elterliche Schwierigkeit Konflikte auszutragen spielt oft eine Rolle: Indem Mutter oder Vater nervenaufreibenden Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen, verwöhnen sie die Kinder und auch in gewisser Weise sich selbst. Verwöhnung ist jedoch entwicklungsfeindlich, weil sie Kinder nicht trainiert, für den Alltag und das Leben wichtige Dinge zu erlernen, Durchhaltevermögen und Selbstbewusstsein zu fördern, sowie sich als selbstwirksam zu erleben.

 

Für Eltern und Pädagogen bedeutet das, Kinder loszulassen und nicht in unnötigen Abhängigkeiten zu halten. Wir müssen uns als Erwachsene immer wieder klarmachen, dass wir Selbständigkeit nicht mit Gleichgültigkeit oder Grenzenlosigkeit verwechseln dürfen und das Wissen haben, dass Lieben und Brauchen zweierlei Ding sind.

 

Die Ausbildung von Selbständigkeit bleibt stets ein ambivalenter Vorgang. Die Entwicklung von Selbständigkeit wird sich immer im Spannungsfeld zwischen den zwei sich gegenüberstehenden Werten Freiheit und Sicherheit bewegen.