Lernen lernen

Aus der Werkstatt-Gazette No. 2

Katrin Moser und Verena Fink - 06. 06. 2011

"Einzelheiten lernen heißt Verwirrung stiften, Zusammenhänge lehren heißt Erkenntnisse stiften."  (Maria Montessori)

 

Kinder sind wissbegierig und wollen gerne lernen, wollen ausprobieren, expandieren und sich weiterentwickeln. Für Kinder gibt es keine leeren Beschäftigungen; alles ist Lernen. Dennoch geht dies nicht von alleine. Lernen besteht häufig aus Wiederholungen. Wiederholungen sind allerdings oft einerseits langweilig und andererseits anstrengend, so dass Kinder dies gerne meiden, wenn es ihnen nicht von außen, also vom Erwachsenen abverlangt wird.


„Die psychische Voraussetzung für ein erfolgreiches Lernen, also beispielsweise eine adäquate Lernhaltung, muss antrainiert werden, und zwar bei allen Kindern gleich. Ein Kind kann nicht von sich aus ruhig zuhören, sitzen bleiben, abwarten, nur reden, wenn es aufgefordert wird. All dies muss gelernt werden, trainiert, immer und immer wieder.“

(Winterhoff, Michael: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit. München 2008. S.79)


 Dies ist für den Erwachsenen ebenso eintönig wie anstrengend: Die immer gleichen Worte zu wiederholen und zu hoffen, dass sich eine Lerneffekt einstellt. Doch genau das ist die Aufgabe des Erwachsenen dem Kind gegenüber wenn es ums Lernen lernen geht. Lernen basiert auf einem funktionsfähigen Gehirn und förderlichen Umfeldbedingungen. Letztere stehen seit mehreren Jahren im Zentrum einiger Hirnforscher. Danach braucht jede Aktivität zwei wesentliche Voraussetzungen:
„Es muss genügend Stimulation geben, und es muss genügend Geborgenheit geben.“

(Wunsch, Albert: Abschied von der Spaßpädagogik. München 2006. S.187f.)


Kinder haben das Bedürfnis danach, sich auf eine Entdeckungsreise durch die Welt zu begeben. Sie haben die Chance, Stück für Stück mehr über sich selbst und die Welt zu erfahren und sie somit zu begreifen. Diese Freiheit führt zu Selbstständigkeit, Selbsteinschätzung und -achtung, Verantwortungs-bereitschaft und Zufriedenheit, zur geistigen Ordnung und inneren Struktur.

 

Das Selbstverständnis des Erwachsenen z.B. in der Montessori-Pädagogik ist das eines Helfers, der dem Kind den Weg zur Selbstständigkeit ebnet, gemäß Montessoris Leitwort „Hilf mir, es selbst zu tun“. Der Prozess des Lernens und der Erkenntnis geschieht im Kind, das Kind ist sein eigener Lehrer. Der Erwachsene muss lernen, das Kind zum Lernen hinzuführen um sich dann zurückzunehmen und letztlich als Beobachter den kindlichen Erkenntnisprozess zu begleiten.

 

Lehren heißt hier nicht übermitteln, es heißt, den fruchtbaren Moment vorbereiten und erkennen. „Wir dürfen dabei nicht übersehen, was und wie viel wir von den Kindern […] bekommen und lernen können. Sie wissen bereits ohne unser Zutun sehr viel.“

(Kegler, Ulrike: In Zukunft lernen wir anders. Wenn die Schule schön wird. Weinheim und Basel 2009. S.140)

 

 

Grundvoraussetzungen, um Lernen zu lernen:


» Individualisierung von Lernsituationen

Vom Kind her denken, also dem Einzelnen große Aufmerksamkeit auf seinen individuellen Wissens-, Leistungs-, Erfahrungs- und Entwicklungsstand zu geben und die Lernsituation diesem anzupassen
» Kontextbezogenes Lernen

Kinder wollen nicht durch abstrakte Einsicht, sondern durch konkrete Erfahrungen lernen, Erleben und Verstehen gehen Hand in Hand
» Beziehung

zwischen dem Lernenden und demjenigen, von dem das Kind lernt
» Verknüpfung

Eingehende Informationen werden an bereits Gelerntes angebunden und vernetzt. Dies kann jedoch nur fruchten, wenn das Kind den Lernprozess in seinem Tempo mitbestimmen kann, aktiv und selbstbestimmt lernen kann
» Soziales und situatives Einbetten der Lerninhalte


Die genannten Punkte stehen jedoch im starken Kontrast zur Lernsituation, wie sie sich uns heute darstellt: Gibt man bei google „Lernen lernen“ ein, erhält man ca. 41.100.000 Ergebnisse. Leider nicht zum Thema Lernen lernen, sondern eigentlich zum Thema Nachhilfe, Lerntechniken, Coaching für Kinder oder Wochenendseminare für Grundschüler. Die etymologische Verwandtschaft des Wortes lernen mit den Wörtern „lehren“ und „Liste“ führt uns auf die Wortgruppe von „leisten“, das ursprünglich „einer Spur nachgehen, nachspüren, schnüffeln“ bedeutet. Urbedeutung des Wortes Lernen ist "wissend werden": Das Lernen ist ein kontinuierlicher Prozess, der uns zunehmend wissend handeln lässt.


Lernen verläuft nicht nur geradlinig, sondern geht oft verschlungene Wege und verläuft bei jedem Kind individuell. „Für jeden Entwicklungsschritt gibt es einen bestimmten Zeitpunkt, zu dem das Kind innerlich bereit ist. Wann dies soweit ist, zeigt uns das Kind mit seinem Verhalten an. Diesen Zeitpunkt gilt es zu erfassen.“

(Largo, Remo H.: Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken. Hamburg 2010. S.66)


Kinder, die sich in ihrer Verschiedenheit tatsächlich anerkannt fühlen, können nicht nur friedfertig miteinander leben und sein, sondern können – bei entsprechender Leitung durch Erwachsene – miteinander und voneinander lernen.

 

Unsere Aufgabe ist es, die Kinder zu schützen vor einer Gesellschaft, in der Lernen ausschließlich mit schulischen und beruflichen Fähigkeiten, mit den Kulturtechniken und diversen Teilbereichen gleichgestellt wird. Zudem darf der – in der stetigen Bildungsdebatte völlig vernachlässigte – Aspekt der Persönlichkeitsbildung nicht außer acht gelassen werden.