Sinne, Wahrnehmung und sinnliche Erfahrungen

Aus der Werkstatt-Gazette No. 11

Katrin Moser und Verena Fink - 20. 01. 2014

Ein Thema, das in der Kinderwerkstatt immer wieder auftaucht und von dem in
 verschiedenen Gazetten bereits die Rede war, ist die Wahrnehmung. Immer wenn wir von Ästhetik sprechen, so auch von der Wahrnehmung der Sinne und den daraus resultierenden Erfahrungen über die Sinne. Eine Frage, die wir uns in diesem Zusammenhang immer wieder stellen ist: „Wie ist es um die Wahrnehmungsfähigkeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen heute bestellt?“ Aber auch: „Wo können sinnliche Erfahrungen noch gemacht werden?“

 

Ungern wollen wir in den Tenor derjenigen einstimmen, die einen Mangel an
Wahrnehmung auf Fernsehen, Computer und Spielkonsolen beklagen. Lieber wollen wir Alternativen bieten und die Erfahrungen mit echtem Material, echten Werkzeugen und echten Beziehungen bestärken. Und da ist es etwas anderes, wenn bereits Vorgefertigtes nur mehr angemalt wird, oder ob man im Schweiße seines Angesichtes, mit Herzen, Kopf und Händen an einem Projekt vom ersten bis zum letzten Schritt arbeitet.


Wahrnehmung ist:

» Sehen  (visuelle Wahrnehmung über die Augen)

» Hören (auditive Wahrnehmung über die Ohren)

» Fühlen (taktile Wahrnehmung über die Haut)

» Riechen (olfaktorische Wahrnehmung über die Nase)

» Schmecken (gustatorische Wahrnehmung über die Zunge)

 

Von der Kleinigkeit, die es in der Abschlussrunde für jeden als Nascherei gibt, sind die gustatorische und olfaktorische (mit wenigen Ausnahmen: „Riech mal wie gut das Holz riecht“ oder „Die Farbe riecht nach Essiggurken, ich glaub in dem Glas waren zuvor welche.“) Wahrnehmung die, die wir in der Werkstatt nicht so häufig bedienen. Wie jedoch die visuelle Wahrnehmung bei vielen Kindern bereits geschult ist, konnten wir erkennen, als in der ersten Woche nach den Weihnachtsferien viele Kinder die Bilder der Ausstellung („Wertstoffinseln. Übergänge von Müll zur Kunst“ am 19.7.2013) neu betrachteten. Für das Weihnachtsprojekt waren die Wände nur eine Woche vor den Ferien verändert gewesen, ebendiese Bilder abgehängt, doch nun wurde wieder neu angesehen und wahrgenommen.


Überhaupt „Sehen“: Es gibt Sehen und Sehen. Oft hängen neue Objekte in der Werkstatt und es ist immer wieder interessant für uns zu beobachten, wer sie sieht. Wer sie überhaupt visuell wahrnimmt und dann auch noch tatsächlich an-sieht. Im Lauf der vielen Jahre müssen wir leider feststellen, dass diese Wahrnehmung abgenommen hat, was ein normaler Prozess zu sein scheint in Zeiten, in denen überall Plakatwände stehen, wohin man geht irgendetwas flimmert und Bilder transportiert werden.


Am besten funktioniert die auditive Wahrnehmung in der Werkstatt immer dann, wenn es still wird. Die Kinder nehmen sofort wahr, dass es ruhig wird, dass sie ruhig werden - und nehmen überdies wahr, dass sie es mögen. Wenn diese Momente stattfinden, schaffen die meisten Kinder auch den Transfer, wie sie adäquat mit dieser Situation umgehen können, und kommen mit Fragen flüsternd zu uns. Je häufiger dies geschieht, desto mehr scheint es ein aktiver Prozess zu werden, die Kinder fordern die Ruhe regelrecht ein und setzen so gemachte Erfahrungen aktiv um.


Natürlich können wir auch berichten von im Laufe der Jahre immer mehr Situationen in denen Kinder „abschalten“ und nicht wahrnehmen, dass jemand mit ihnen spricht. Doch auch hier gilt: Es ist kein Wunder in Zeiten, in denen (vor allem in der Großstadt) immer Geräusche um einen sind (was ja schon als Erwachsener kaum auszuhalten ist und sich in entsprechenden Krankheitsbildern niederschlägt). In denen man noch immer nicht jedes Mal weiß, spricht mein Gegenüber gerade in ein kaum sichtbares headset, in ein Telefon – oder mit mir? Wie beim Sehen muss sich das Gehirn entscheiden: Nehme ich jeden Reiz wahr, oder warte ich ab, bis ich sicher sein kann, er gilt wirklich mir und erst dann reagiere ich.


Die am wenigsten geliebte Tätigkeit bei den meisten Kindern ist das Schmirgeln, das nach dem Sägen erfolgt. Und doch ist gerade dies eine ausgezeichnete Schulung der taktilen Wahrnehmung. „Fühl mal selbst!“, sagen wir oft wenn jemand fragt „Ist das gut geschmirgelt?“ Und manchmal bitten Kinder andere Kinder um Hilfe „Kannst du mal fühlen, ob das gut genug geschmirgelt ist?“ So lernen sie, Unterschiede wahrzunehmen und ihre eigene Wahrnehmung einzuschätzen.


Besonders in der Ausstellungsvorbereitung, als jedes einzelne Stück mehrfach in die Hand genommen werden musste (Plastikmüll zum Sortieren, Müll um ihn unterschiedlich auf einem Bild zu platzieren, Teebeutel und Kronkorken um sie zu bemalen etc.), bekam diese Art der Wahrnehmung eine ganz neue Bedeutung.


 Wahrnehmung und Sinne zu schulen findet also im Kleinen wie im Größeren im Werkstattalltag statt. Hier können – um die Eingangsfrage selbst zu beantworten – sinnliche Erfahrungen gemacht werden.
Ja, im Lauf der vielen Jahre Erfahrung in der Kinderwerkstatt merken wir, dass die Wahrnehmungsfähigkeiten weniger werden. Und: Ja, es wird weiterhin eines der Hauptthemen bleiben, denn daraus resultieren wichtige Schlüssel-Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit, Lernkompetenz, Eigeninitiative, Ausdrucksfähigkeit und soziale Kompetenz.