Oasen

Aus der Werkstatt-Gazette No. 13

Katrin Moser und Verena Fink - 05.07.2014

Wenn man im Buchhandel ein Buch unter dem Stichwort „Oase“ sucht, erscheinen jede Menge Bücher die nicht von der tatsächlichen Oase (von altgr. ὄασις óasis „bewohnter Ort“; altägyptisch waset -„Kessel“- ein Vegetationsfleck in der Wüste, üblicherweise an einer Quelle, Wasserstelle oder einem Wadi gelegen.1) handeln. Die Bücher tragen Titel wie „Oasen der Stille“, „Oasen der Ruhe“, „Oasen der Entspannung“, „Oasen für die Seele“ oder „Oasen des Friedens“. Wenn es diesen Markt gibt, muss die Nachfrage – die Sehnsucht – groß sein nach diesen Orten in der Wüste.

 

Doch wonach diese Sehnsucht? Wofür steht die Oase sinnbildlich?

 

In unserer Welt mangelt es uns eigentlich an nichts: Wir haben ausreichend (gute) Nahrung, tragen ausgewählte Kleidung, können meist entscheiden wo und wie wir leben wollen, müssen nicht den- oder diejenige heiraten, der oder die uns vorgegeben ist, können entscheiden wann wir wie viele Kinder bekommen und können bis hin zum Strom- und Telefontarif alles frei wählen. 

Woher also das Gefühl von „Wüste“ in uns, das sich nach Oasen sehnt?

„Wir befinden uns heute auf einem selbst generierten Crash-Test. Mit höchster Geschwindigkeit und ohne sich vorab erkundigt zu haben, wo die Bremse sitzt und wie man das Steuer noch rechtzeitig herumreißen könnte, rast der Rennwagen, der sich moderne Gesellschaft nennt, auf eine Mauer zu und vertraut darauf, dass dieser Höllenritt schon irgendwie gut gehen möge. Seine derzeitige rasante Geschwindigkeit angenommen hat dieser Rennwagen vor gut sechzig Jahren. […] Die Gesellschaft vollzieht, gerade im technischen Bereich, einen immer rasanteren Wandel, die Halbwertzeit neuer Entwicklungen tendiert gegen Null. Kaum hat der Mensch begonnen, sich auf eine neue Situation in seinem Lebensumfeld einzustellen, ist diese bereits wieder überholt und von der fortschreitenden Entwicklung unwichtig gemacht.“2

Und: Die meisten dieser Situationen, in die wir uns begeben – und in die wir „hineingeworfen“ werden, sind keine „unmittelbaren“ Erfahrungen. Für diese benötigen wir Nischen und Freiräume. Als Erwachsene, und als Kinder. Kinder erleben heute überwiegend ein Leben in so genannter "Verinselung":

"Verinselung besagt, dass der einheitliche Raum, der früheren Kindergenerationen zur Verfügung stand, fragmentiert ist: Die Orte der Kinder liegen weit verstreut und sind nur bei großer eigener Mobilität oder mit elterlicher Hilfe erreichbar. Entfernungen und Modi der Passagen von Insel zu Insel in privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln ermöglichen insbesondere kleineren Kindern nicht mehr die Vorstellung eines zusammenhängenden Raumes. Organisation und Erfahrung ihres Lebensraumes sind "verinselt". Alle diese Entwicklungen sind Begleiterscheinungen beziehungsweise Effekte gesamtgesellschaftlicher Transformationen. Sie befördern die [...] Individualisierung von Kindheit."3

  

Das Erleben und Erfahren in der heutigen Kindheit bedeutet oftmals ein singuläres Lernen und Leben ohne Zusammenhänge, also ein Erleben in Ausschnitten. Die Erfahrungen werden nicht selbst gemacht (am Beispiel der Mobilität: Kinder steigen selten selbst auf ein Fahrrad um von A nach B zu gelangen), sondern werden durch zweite oder dritte erlebt (Kinder werden von ihren Eltern von A nach B gefahren). Dadurch ergibt sich ein Erleben durch einen "Filter" oder durch Dritte (auch durch diverse Medien). Und doch wollen wir alle „echte“ Erfahrungen machen. Primärerfahrungen, die in direktem Kontakt mit Mitmenschen oder einem Objekt gemacht werden. Nicht Erfahrungen aus zweiter oder dritter Hand, aus der Wahrnehmung übernommen, nacherzählt von anderen, oder im Fernsehen gesehen.

 

Vor allem Kinder müssen Primärerfahrungen machen, denn nur die Herausforderung des eigenen Denkens, Fühlens, Erlebens und Handelns lässt sie tatsächlich er-leben. Kinder brauchen vielfältige, persönliche Erfahrungen, denn das Greifen, das dem Begreifen vorausgeht, kann weder durch verbale Erläuterungen noch durch virtuelle Bilder ersetzt werden. Um die Sensibilität ihrer Sinne auszuprägen, zu entwickeln und zu stärken, müssen Kinder immer wieder und vor allem auch selbständig Primärerfahrungen machen.

 

So scheint die Oase für uns Menschen im Jahr 2014 sinnbildlich für den Ort zu stehen, in denen wir echte Erfahrungen machen dürfen – individuelle Erfahrungen, fern vom Konsens. Erfahrungen, die analog und nicht digital sind. Die Oase scheint der Ort zu sein, in der wir die Zeit anhalten dürfen und nicht von Ort zu Ort, von Termin zu Termin hetzen müssen. Der Ort, in der es Freiräume und Nischen und Zusammenhänge gibt.

 

Wir als Kinderwerkstatt verstehen uns als Oase: Hier gibt es keine Telefone, kein WLAN im Raum und für 1 ½ Stunden können Kinder in Büchern nach Antworten suchen. In der Kinderwerkstatt sind die Hände und Köpfe der Kinder im gegenwärtigen Tun. Hier werden Abläufe von Anfang bis Ende erlebt und vor allem auch Zusammenhänge erfahren. Hier können Kinder immer wieder die Zeit vergessen und die Anforderungen die schon an die Kleinsten gestellt werden, einmal in den Hintergrund stellen. Hier können sie vielleicht auch einmal etwas tun, was in der Gesellschaft, selbst schon im Kindergarten als „unnütz“, als „nicht effizient“ gilt.

 

„Das Unnütze bringt das hervor, was uns am meisten nützt: Es ist das, was man vielleicht auf Umwegen erschafft, ohne Zeitverlust zu fürchten und dem Trugbild der Effizienz nachzujagen, das sich die Gesellschaft zurechtgebastelt hat.“4

 

Dieses Trugbild wäre dann wohl die Fata Morgana.

 

 

1 http://de.wikipedia.org/wiki/Oase. Letzter Aufruf 26.06.14

2 Winterhoff, Michael: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit. München 2008. S.171 f.

3 Hengst, Heinz: Kindheit im 21. Jahrhundert. Diferenzielle Zeitgenossenschaft. Weinheim und Basel 2013. S.73

4 Benasayag, Miguel und Schmit, Gérard: Die verweigerte Zukunft. Nicht die Kinder sind krank, sondern die Gesellschaft, die sie in Therapie schickt. München 2007. S.79