Lernprozesse durch Gestalten

Aus der Werkstatt-Gazette No. 10

Katrin Moser und Verena Fink - 06. 10. 2013

Zwar wissen wir, dass Wissen ein kurzes Verfallsdatum hat und eigenes Denken nicht, dass Zusammenhänge zu verstehen weitaus wichtiger ist, als Einzelheiten abrufen zu können - doch die Realität sieht anders aus: es wird über Bildungsreformen diskutiert, es entstehen neue Curriculae, es wird die Schul- und Studienzeit verkürzt – und dies nicht zugunsten des Lernens, vor allem nicht des Lernen lernens, der Lernprozesse. „Die Verengung der Bildungsdiskussion auf Sprache, Logik und Mathematik führt im Endeffekt zu einer zunehmenden Vernachlässigung und Marginalisierung der somatisch-körperlichen, nicht-begrifflichen und nicht-logischen Erkenntnisfähigkeiten. […] Man sollte bewusst, gezielt und mit wissenschaftlichen Methoden nachforschen, aus welchen somatischen, affektiven, emotionalen oder kognitiven Wurzeln sich unser Vorstellungsvermögen und unsere Kreativität speisen." (Huber, Hans-Dieter: Ästhetische Bildung in Europa. Erschienen in: la boite en valise - oder Die Neue Welt liegt mitten in Europa. Ausstellungskatalog Kunstverein Weiden. 2004) Maria Montessori leitet aus ihren Beobachtung ihre Erkenntnis ab, dass der Zugang zum kindlichen Denken nicht auf abstraktem Wege, sondern grundsätzlich über die Sinne des Kindes erfolgt. Greifen und Be-greifen werden zur Einheit im Lernprozess. „Das Kind wird so durch das Werk seiner Hände und seiner Erfahrung zum Menschen. Die Hände sind das Werkzeug der menschlichen Intelligenz.“ (Maria Montessori)

 

Doch wo können Lernprozesse für Kinder stattfinden und wo haben Kinder die Möglichkeit – neben Kindergarten und Schule und den entsprechenden Anforderungen dort – Kompetenzen zu erwerben? Die heutige Gesellschaft kennt mit Online-Communitys, sozialen Netzwerken, sogenannten „sozialen Medien“, aber auch den herkömmlichen Medien (Fernsehen, Print) den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit als eine Form von Selbstdarstellung. Diese jedoch ist nicht der indivduelle Ausdruck, wie wir ihn meinen und nach dem Kinder ein Bedürfnis haben. Ohne die praktische Tätigkeit, ohne „Hand-Arbeiten“ entwickelt sich dies nur zu Eitelkeiten, nicht aber zum Ausdruck, zur Gestaltung. „Das Fernsehen überflutet das kindliche Gehirn gerade in jener Zeit mit Bildern, in der es lernen sollte, Bilder von innen zu erzeugen."

(Der amerikanische Intelligenzforscher Joseph Chilton Pearce. In: Wunsch, Albert: Abschied von der Spaßpädagogik. München 2006. S.55.)

 

Die Angst beim Einsetzen von Stille ist nicht mehr nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern groß geworden, die Angst, dem eigenen Sein zu begegnen, wird mit allen Mitteln – und eben allen Medien – zuvorgekommen. Erziehung im lebensfördernden und selbstbewusstseinsfördernden Sinne findet immer dann statt, wenn ausreichend Raum geboten wird, etwas eigenständig zu schaffen und zu gestalten. Der Mensch ist nicht dazu geboren, Spielball der Prozesse zu sein, sondern Gestalter, und dies zeigt sich bereits früh im Bedürfnis der Kinder nach einem Ausdruck ihrer selbst. Unsere Konsumgesellschaft baut darauf, dass bereits Kinder glauben, Anerkennung kaufen zu können, was dem Bedürfnis nach eigenem Gestalten komplett entgegensteht.

 

Es geht nicht darum, Kinder zu „Künstlern“ zu erziehen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Kreativität auszuleben und zu fördern. Jedes Kind drückt mit dem, was es gestaltet, die eigene Persönlichkeit seines Wesens, die Geschichte seiner Erfahrungen, seine Gefühle, das eigene Denken und Erlebtes aus.

 

Kreativität

„Die Mythologie der Kindheit hat […] eine besondere Form angenommen: Wir haben Angst, das sagenhafte Potenzial unserer Kinder zu beschädigen, wenn wir ihrer grenzenlosen Kreativität Zügel anlegen, ihre Möglichkeiten einschränken, wenn wir […] sie frustrieren, wenn wir ihnen Grenzen setzen." (Thompson, Caroline: Die Tyrannei der Liebe. Wenn Eltern zu sehr lieben: Perfekte Erziehung und die Ambivalenz unserer Gefühle. München 2008. S.52) Kreativität kann also nicht verstanden werden als uneingeschränkte Begeisterung gegenüber jedem Produkt, das Kinder fertigen, sondern in einem weiteren Sinne: Betrachtet man den Bergriff „Kreativität“, so liegt seine ethymologische Wurzel im Lateinischen: creare wird übersetzt mit zeugen, erzeugen, erschaffen, gebären, hervorbringen. Demnach wird unter Kreativität eine schöpferische, eine gestalterische Kraft verstanden, im weitesten Sinne also eine Tätigkeit, die etwas Neues hervorbringt. Immer hat Kreativität etwas mit neu erschaffenen Lösungen zu tun. Lösungsmöglichkeiten auf den unterschiedlichsten Ebenen, Neuheit und schöpferische Produktivität im Denken und Handeln. Schöpferische Produktivität ist ohne Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung kaum möglich.

 

Wahrnehmung

„Wahrnehmung kann gleichgesetzt werden mit der Arbeit an und mit den Sinnen. Sie ist außen- und innengerichtet: Wahrnehmung dessen, was außerhalb von mir ist, Wahrnehmung dessen, was in mir vorgeht, wobei der Schwerpunkt einmal auf dem Außen (Extrasubjektivität), einmal auf dem Innen (Intrasubjektivität) liegen kann." (Matthias Duderstadt, Improvisation und Ästhetische Bildung. Ein Beitrag zur Ästhetischen Forschung. Köln 2003)

Kinder haben in gestalteten Räumen besondere Entwicklungschancen. „Sie brauchen Schönheit um sich herum, damit sie den unleugbaren Hässlichkeiten dieser Welt gestärkt begegnen können." (Kegler, Ulrike: In Zukunft lernen wir anders. Wenn die Schule schön wird. Weinheim und Basel 2009. S.243)

 

Ästhetische Bildung

„Die Wortbedeutung von „Ästhetik“ folgte in Europa seit Aristoteles erkenntnistheoretischen Deutungen und betonte die Wahrnehmungsdimension in Erkenntnisprozessen, während die amerikanische Kreativitätsforschung bis heute dem Verständnis von Kreativität als Problemlösungskompetenz folgte, als deren Voraussetzung umfassende Wahrnehmungsvorgänge galten." (Braun, Daniela: Warum Kreativitätsförderung unverzichtbar ist für die Begleitung von Bildungsprozessen in der frühen Kindheit. Wissen und Wachsen. 2007)

 

Nicht das Geplante, nicht das Fertige, den Kindern Vorgesetzte steht im Mittelpunkt bei der ästhetischen Bildung, sondern das Werden, das Schaffen und somit das Entwickeln. Ästhetische Bildung, die in der Schule zugunsten von Verkürzung oder anderen - vermeintlich wichtigeren - Fächern vernachlässigt wird, muss somit in der außerschulischen Bildung stärker wahrgenommen werden. Hier kann die Wahrnehmung geschult werden, kann Kreativität entwickelt und kann prozessuales und planerisches Vorgehen ausprobiert werden. Zentraler Bezugspunkt der Ästhetischen Bildung ist das Kind als ein sich selbst bildendes Wesen, das sich in der frühen und mittleren Kindheit primär ästhetisch bildet und lernt. Ästhetische Bildung ist basale Bildung, die Lernerfahrungen initiieren und erlebbar machen kann.

 

In der Kinderwerkstatt können ästhetische Erfahrungen gemacht werden. Auf Basis dessen durchleben die Kinder eine Reihe von Lernprozessen. So genanntes "Erfahrungslernen" ist hier möglich und bildet die Grundlage nicht nur für individuellen Ausdruck, sondern für weitreichenderes Lernen in Zusammenhängen.