Kindsein - Das Bedürfnis der Kinder nach Zeit und Aufmerksamkeit

Aus der Werkstatt-Gazette No. 6

Katrin Moser und Verena Fink - 25. 06. 2012

Der gesellschaftliche Wandel hat eine besondere Form der Aufmerksamkeit auf die Kinder hervorgebracht. Als vollkommen normal gilt es in unserer Gesellschaft, dass sich Erwachsene und Kinder auf gleicher Ebene begegnen und so auf Augenhöhe miteinander sind. „Vordergründig scheint die Kinderwelt in den westlichen aufgeklärten Gesellschaften heute mehr denn je in Ordnung zu sein. Es gibt keine Zehnjährigen mehr, die in Bergwerken schuften müssen, damit die Großfamilie daheim genug zu essen hat. […] Das Kind an sich erscheint uns heute geradezu als Heilsbringer. Verstärkt wird dieser Effekt durch den Kindermangel der modernen Gesellschaft. Die Tatsache, dass in den vergangenen Jahrzehnten immer weniger Kinder geboren wurden, macht das Kind wie in einem marktwirtschaftlichen Vorgang zu einem raren und damit begehrenswerten bzw. wertvollen Gut, das bevorzugt behandelt werden muss. Kinder werden auf diese Art und Weise in eine Rolle hineingezwängt, für die sie nicht geeignet sind, da ihnen sämtliche psychischen Eigenschaften fehlen, diese Rolle ausfüllen zu können. Die Rolle, die ihnen zugewiesen wird, ist die eines Partners der Erwachsenen.“ (Winterhoff, Michael: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit. München 2008. S.27f.)


Der vom gesellschaftlichen und technischen Wandel überforderte Erwachsene, der oftmals mit den Belastungen des immer komplizierter werdenden Alltags nicht klar kommt, sucht sich das Kind als Ersatz und als Helfer: Kinder werden ernst genommen in ihren Äußerungen zu „Erwachsenenthemen“. Mütter, Väter und andere Erwachsene, die in die Erziehung eingebunden sind, diskutieren mit Kindern Partnerschaftsprobleme, alltägliche, finanzielle, logistische Themen, die eigentlich außerhalb der Kinderwelt liegen sollten.

 

Wenn Kinder alles dürfen, bei allem mitreden dürfen, in alles einbezogen und eingebunden werden, bleibt kein Freiraum mehr für ihr Kindsein und kindliches Verhalten.

 

Wenn Kinder für ihre Eltern Erfüllungsgehilfen sein müssen, bleibt kein Freiraum mehr für ihre eigene Entwicklung, ihre eigenen Fähigkeiten, ihre eigenen Schwächen, ihre eigenen Räume, nur ihnen bekannte Kinderwelten.

 

Wenn Kinder wie ihre Eltern gekleidet sein müssen, die gleichen Hobbys, die gleichen Reisen, die gleichen Konsumgüter wie ihre Eltern haben müssen, bleibt kein Freiraum für kindliches Spiel, für kindlichen Ausdruck und für kindliches Sein.

 

Es muss auch Zeiten geben, in denen Kinder Zeit haben für unstrukturiertes Spiel, in der sie nicht funktionieren müssen. Zeit, in der sie sich auch einmal langweilen dürfen, um ihre eigenen Bedürfnisse zu entdecken. „Kinder erhalten heute zu viele Anregungen von außen. Sie werden schon ab dem Kindergarten mental gesteuert. Das führt dazu, dass sie von diesen äußeren Stimulierungen regelrecht abhängig werden. Wenn sie nach Hause kommen, verlangen sie eine Fortsetzung des Programms – und viele Eltern machen da mit: Fernsehen, Computerspiele, Reitkurs, Ballett, Fußballverein und so weiter und so weiter. […] Man hilft den Kindern nicht dabei, einen inneren Halt zu entwickeln, wenn man ihnen permanent etwas Neues anbietet.“

(Jesper Juul in: http://www.fr-online.de)


Nach Maria Montessori ist eine der wichtigsten Aufgaben des Erwachsenen das sorgfältige, intensive Beobachten eines jeden einzelnen Kindes, um die momentanen Bedürfnisse und Interessen sowie den Entwicklungsstand des Kindes zu kennen, es entsprechend zu unterstützen und zu fördern. Die Erwachsenen sind die Ansprechpartner für das Kind. Sie helfen dem Kind, greifen aber nicht vorschnell in sein Tun ein und halten Störungen anderer von ihm fern. Dadurch hat jedes einzelne Kind die Aufmerksamkeit, die es benötigt um altersadäquat, kindgerecht, sowie seinem Entwicklungsstand entsprechend zu agieren. „Nur wenn man ganz Kind gewesen ist, wird man ein ausgeglichener Erwachsener.“  (Maria Montessori). „Nur wenn Eltern präsent sind, können sie auch eine positive Vorbildrolle einnehmen, können sie einen gesunden Einfluss auf ihr Kind ausüben.“  (Bernd Siggelkow) 

Dafür benötigen wir Zeit. Der größte Wunsch der meisten Kinder in Deutschland ist es, mehr Zeit mit ihren Eltern zu verbringen. Das untermauern repräsentative Umfragen. Zeit nicht im Sinne von effizient geplanter „Qualitiy time“, sondern Zeit, in der die Kinder begleitet werden. „Der Zeitaspekt ist heute einer der zentralen Sollbruchstellen in der Eltern-Kind-Beziehung. Die Begleitung der Kinder durch die Eltern, um eine gesunde psychische Reifeentwicklung zu befördern, braucht Zeit. Zeit auf Seiten der Eltern, die ausschließlich dem Kind gewidmet werden kann.“  (Winterhoff, Michael: Tyrannen müssen nicht sein. Warum Erziehung allein nicht reicht. Gütersloh 2009. S.118f)

Es ist nicht zu unterschätzen, was man Kindern in den Zeiten, die man intensiv mit ihnen verbringt, für ihr Leben mitgeben kann.

 

Der amerikanische Autor Arthur Gordon beschreibt in seinem Buch „Geschenke des Himmels“ zum Beispiel, wie sein Vater ihn eines Nachts aus dem Bett holte um ihn an dem Wunder eines Sternschnuppenregens teilhaben zu lassen. Der Autor schreibt: „Seitdem sind Jahrzehnte vergangen. Aber ich erinnere mich immer noch an die Nacht, weil ich das Glück hatte, ein siebenjähriger Junge zu sein, dessen Vater eine solche neue Erfahrung für wichtiger hielt als einen ungestörten Schlaf. Ich hatte als Kind genau so viele Spielsachen wie alle anderen, aber die habe ich inzwischen alle vergessen. Ich erinnere mich an: Die Nacht, in der die Sterne vom Himmel fielen; den Tag, an dem ich im Begleitwagen eines Güterzugs mitfahren durfte […]. Ich erinnere mich noch an den 'Trophäentisch’ bei uns im Flur, auf dem wir Kinder Sachen ausstellen durften, die wir gefunden hatten…“

(Gordon, Arthur: Geschenke des Himmels. Die kleinen wunderbaren Momente des Lebens. Asslar 2008. S.147)

Diese Art von Erinnerungen, die jeder von uns an besondere Erlebnisse mit dem eigenen Vater oder der eigenen Mutter hat, zählen sicherlich zu den wertvollsten Erinnerungen – an gemeinsam verbrachte Zeit.


Kinder sind angewiesen auf die Zeit, die wir mit ihnen verbringen – und zwar als
Erwachsene und nicht als Partner. „Kinder brauchen eine andere Qualität von Zeit als Erwachsene, sie brauchen mehr Konstanz. Sie brauchen erwachsene Bezugspersonen, die nicht ständig ihren Kontakt zu den Kindern unterbrechen, denn die irrationale Bindung ist nicht plötzlich da, aus dem Nichts und ein für allemal. Sie entsteht beim gemeinsamen Tun…“ (Münnix, Norbert u. Gabriele: Zeit für Kinder. Wie wir Kindern Werte geben. Düsseldorf 2005. S.66)

Wenn wir ihnen diese gemeinsame Zeit nicht geben, kommen wir unserer Verantwortung unseren Kindern gegenüber nicht nach. „Alle Eltern – ob reich oder arm, ob mit Arbeit oder ohne – haben ihren Kindern gegenüber die Verpflichtung, deren gesunde Entwicklung zu fördern. Nur mit ihrer Hilfe werden ihre Sprösslinge ein festes Fundament für das Erwachsenenleben bekommen; ansonsten drohen sie emotional zu verarmen.“ (Siggelkow, Bernd und Büscher, Wolfgang: Deutschlands große Chance. Was sich unsere Kinder wünschen und warum wir sie unbedingt ernst nehmen müssen. Asslar 2009. S.62)