Grenzen und Freiheit

Aus der Werkstatt-Gazette No.14

Katrin Moser und Verena Fink - 29.09.2014

Das Bedürfnis der Kinder nach Ordnung, Struktur, Regeln

 

Freiheit wird in der Regel verstanden als die Möglichkeit, ohne Zwang zwischen allen Möglichkeiten auswählen und entscheiden zu können. Der Begriff benennt in Philosophie und Recht der Moderne allgemein einen Zustand der Autonomie eines Subjekts. Als Autonomie (altgr. αὐτονομία, autonomía = Eigengesetzlichkeit, Selbstständigkeit, aus αὐτός, autós =selbst und νόμος, nómos = Gesetz) bezeichnet man den Zustand der Selbstständigkeit, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit. Ihr Gegenteil ist die Heteronomie.

 

 

„Nicht wenn wir tun, was wir wollen, sind wir frei, sondern wenn wir wollen, was wir tun.“ (Maria Montessori)

 

Wenn wir die Kinder ganz ihren Wünschen überließen, hielten wir sie in einem Zustand, in dem allein das Lustprinzip regierte – dem jedoch kein Realitätsprinzip mehr gegenüberstünde, also somit einer vermeintlichen – nicht realistischen - Freiheit. Darum müssen Grenzen gesetzt werden. Voraussetzung dafür ist eine grundsätzliche Ordnung, sind Regeln.

 

In der gestalterischen Arbeit mit Kindern ergibt sich ganz selbstverständlich eine Struktur und eine Ordnung: Ein unvorbereiteter Arbeitsplatz, schlecht organisiertes Material oder unstrukturiertes Arbeiten lässt die eigentliche Arbeit nicht zu. „Vollends misstraue ich denen, die Ordnung, Disziplin, Tradition zu Feinden der Kreativität erklären. Sie sind vielmehr oft deren Voraussetzungen.“1 Die „vorbereitete Umgebung“, wie sie auch in der Pädagogik von Maria Montessori beschrieben ist, dient dazu, dem Kind die Möglichkeit zu geben sich nach und nach vom Erwachsenen zu lösen, von ihm unabhängig zu werden. Um körperlich und geistig anwesend zu sein, sind gestaltete Orte und auch sinnlich erfahrbare Räume unerlässlich. Je wohler sich die Kinder in ihrer Umgebung fühlen, je handlungsorientierter sie arbeiten können, desto größer ist dann einerseits ihre Zufriedenheit, andererseits sind aber auch die Ergebnisse besser. „Der Raum als dritter Pädagoge“2 ist mittlerweile in diesem Zusammenhang ein wichtiges Schlagwort geworden. „Erst durch eine bewusste Auswahl und Anordnung kann Resonanz zwischen den Menschen, den Dingen und Räumen entstehen.“3

Kinder haben das Bedürfnis nach Ordnung und Struktur, nach sich daraus ergebender Ruhe - nach Regeln und Grenzen – und somit nach einer Freiheit, in der Kreativität erst entstehen kann.

Wenn man von Grenzen spricht, muss man genau festlegen, was damit gemeint ist. Nämlich nicht das, was die meisten von uns gewohnt sind: Nämlich Grenzen als Druckmittel oder Notbremse, wenn eine Situation schwierig wird. Grenzen sollen nicht der eigenen Bequemlichkeit dienen und Verbote darstellen, die dazu führen, das Kind einzuengen, sondern sie sollen vielmehr Sicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit bieten, die das Kind herausfordern. Somit sollen sie vor allem ihrer Orientierung dienen. Ohne geeignete Grenzen können Menschen nicht zusammenleben und –arbeiten. „Freiheit so viel wie möglich, Grenzen so viel wie nötig“, wie es Maria Montessori formulierte. Das bedeutet, Kinder brauchen sie, und haben aber auch das Bedürfnis nach Grenzen, innerhalb derer sie sich ausprobieren und (frei) sein können.

 

Diesem Bedürfnis nach Grenzen, nach Struktur und Regeln steht heute der Umgang mit Kindern gegenüber: Wichtig wäre, dass das Kind Erwachsene (Mutter, Vater, Erzieher, Lehrer…) als Begrenzung des eigenen Ichs erfahren könnte, dass dem Kind sein Recht auf Orientierung und Halt durch seine Bezugspersonen zugestanden wird. Kinder brauchen zunächst einmal ein erwachsenes Gegenüber, d.h. eine Person, die sich bewusst ist, dass (heute zum Teil negativ besetzte Begriffe) wie Grenzsetzung, Autorität, Regeln und Hierarchie genau die Punkte sind, die den Kindern die dringend nötige Struktur geben. „Wenn wir dem Kind erlauben, die Maßstäbe zu setzen, bringen wir es in die Position eines Erwachsenen, der es nicht gewachsen ist, und oft bringen wir es in Schwierigkeiten, denn wir verlangen von ihm Entscheidungen, die ihm nicht zustehen.“4 Das heißt, damit geben wir dem Kind eine Freiheit, die es überfordert.

„Trifft man Erwachsene, die sich über Kinder im Kindergarten- oder frühen Schulalter unterhalten, hört man häufig Sätze wie „Mein Kind hat einen starken Willen, es setzt sich durch, weil es weiß, was es will.“ Mit solch einer Beschreibung wird dem Kind eine eigene Persönlichkeit zugeschrieben, die es in einem so frühen Stadium seines Lebens noch gar nicht haben kann, da die Persönlichkeitsentwicklung erst mit dem achten oder neunten Lebensjahr einsetzt.“5, so Michael Winterhoff in seinem Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Winterhoff weiter: „Was die Eltern aus dem Beispiel mit Persönlichkeit verwechseln, sind schlicht kindliche Verhaltensweisen, die jedes Kind in diesem Alter zeigt. So wirken Kleinkinder immer „willensstark“, da sie psychisch gesehen noch in der Annahme leben, sie seien alleine auf der Welt und könnten rein lustbetont ihren Willen ausleben. Diese Kinder haben noch nicht gelernt, ihre Außenwelt und andere Menschen als Begrenzung ihres eigenen Ichs anzusehen.

 

Das Problem besteht darin, dass viele Eltern, aber auch Erzieher und Lehrer, das Gefühl dafür verloren haben, den Kindern diese Begrenzung zu vermitteln. Sie nehmen das Kind in seiner vermeintlichen Persönlichkeit wahr und bestärken es eher noch in den eingenommenen Merkmalen.“6

Hier wird klar, welche Auswirkungen es hat, wenn wünschenswerte Autonomie und Selbständigkeit der Kinder damit verwechselt wird, ihnen keinerlei Regeln für ihr tägliches Verhalten an die Hand zu geben und dem Kind somit eine altersgerechte Weiterentwicklung verwehrt wird: Es wird in einer frühkindlichen Phase stecken bleiben und immer Schwierigkeiten haben, sich in seinem Alltag, in dem es immer auch um die Anerkennung von Grenzen geht, zurecht zu finden.

Denn hier geht es nicht um die Begrenzung um der Grenzen willen noch geht es um bloßen Gehorsam und widerspricht auch nicht der Forderung nach einem liebevollen Umgang mit und nach Nähe zum Kind. Kinder haben das Bedürfnis nach Ordnung, Struktur, Regeln und Grenzen, um sich darin entwickeln zu können. „Nur die Erfahrung, sich im Schutz der eigenen Grenzen – bei gleichzeitiger Akzeptanz der Grenzen anderer – gut entwickeln zu können, lässt innere Akzeptanz wachsen, wirkt sich fördernd auf das weitere Leben aus.“7 Erst beides – liebevoller Umgang und die Grenzsetzung – sorgt für die Ausbildung aller Fähigkeiten, die die Kinder zum Leben brauchen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Konsequenz und Autorität der Liebe nicht im Wege stehen, sondern sie im Gegenteil nähren – und ihr Überborden verhindern.8

 

All dies impliziert, dass der Erwachsene dem Kind Grenzen setzen KANN, weil er selbst Grenzen akzeptiert. In einer Gesellschaft, in der vorhandene Grenzen keinerlei Bedeutung mehr zu haben scheinen, in der eine falsch verstandene „Freiheit“ auch Erwachsene überfordert und vielmals krank macht, scheint es in der Folge dessen auch für Kinder keine Entsprechung mehr geben zu müssen. „Demnach ist zu folgern: Wenn Menschen, Institutionen, unterschiedliche Kulturen oder Religionsgruppen und Völker Grenzsetzungen wirklich akzeptierten, wäre ein entsprechendes Regelwerk für Kinder überflüssig.“9 Es ist ein in der Gesellschaft weit verbreitetes Missverständnis, dass jeder Ansprüche hat, ohne entsprechenden Pflichten nachzukommen („So haben Eltern eine Erziehungspflicht, Kinder eine Lernpflicht, Erwerbstätige eine Mitarbeitspflicht, Betriebe eine Fürsorgepflicht und alle zusammen eine Mitgestaltungspflicht gegenüber der Gemeinschaft. Wer Freiheit und Verantwortung auseinander definiert, erzeugt Chaos.“10) Diese Ansprüche haben also Grenzen, die uns als Erwachsenen ermöglicht, in einem Miteinander zu leben, Kindern jedoch weitaus mehr ermöglicht: Nämlich die Entwicklung ihrer Persönlichkeit sowie ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten. Dies sind nicht immer die Dinge, die gerade am meisten Lust verschaffen, also ist es die Aufgabe des Erwachsenen, dem Kind zu helfen: „Heute weiß ich, dass es nicht darum gehen kann, die Kinder machen zu lassen, was sie wollen, sondern dass sie machen, was sie können.“11 wie es Ulrike Kegler (s. Buchtipp in der Werkstatt-Gazette No.1, 26.02.2012) formuliert, ist in diesem Zusammenhang das, wonach wir uns richten müssen.

 

Dann kann Autonomie entstehen, eine wirkliche Freiheit.

 

 

 

1 Von Henting, Hartmut: Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff. München und Wien 1989. S.50

2 Lorris Malguzzi (1920-1994), italienischer Pädagoge, Begründer der „Reggio-Pädagogik“

3Kegler, Ulrike: In Zukunft lernen wir anders. Wenn die Schule schön wird. Weinheim und Basel 2009.  S.88

4 Thompson, Caroline: Die Tyrannei der Liebe. Wenn Eltern zu sehr lieben: Perfekte Erziehung und die Ambivalenz unserer Gefühle. München 2008. S.53

5 Winterhoff, Michael: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit. München 2008. S.28.

6 Winterhoff, Michael: ebd.

7 Wunsch, Albert: Die Verwöhnungsfalle. Für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit. München 2000. S.64

8 Vgl. hierzu Thompson, Caroline: Die Tyrannei der Liebe. Wenn Eltern zu sehr lieben: Perfekte Erziehung und die Ambivalenz unserer Gefühle. München 2008.

9 Wunsch, Albert: Abschied von der Spaßpädagogik. München 2006. S.57

10 Wunsch, Albert: ebd. S.92

11 Kegler, Ulrike: In Zukunft lernen wir anders. Wenn die Schule schön wird. Weinheim und Basel 2009. S.29