Erziehung - Teil 2

Aus der Werkstatt-Gazette No. 8

Katrin Moser und Verena Fink - 07. 03. 2013

Wie erziehen...?

"Erziehung“ wird heute von allen Seiten beleuchtet: In Taschenbüchern, Frauenzeitschriften, neu gegründeten Familienzeitschriften, in Fernsehsendungen und -dokumentationen, im Internet, in Elternkursen und -schulen.

 

Warum ist es heute so schwer „richtig“ zu erziehen?

Wir haben uns gefragt, ob es tatsächlich in einer immer komplexeren Welt ein immer komplexeres Feld ist, oder ob wir es gerne komplexer hätten, um uns mit der Erziehung unserer Kinder (und damit immer auch mit uns selbst) zu beschäftigen.

 

Wie wurden Kinder früher erzogen als es noch nicht so viele Ratgeber, Tipps und Therapeuten, Berater und Fachleute gab? Wie hat sich die Kindheit verändert? Und: Wollen wir Kinder erziehen oder wollen wir sie zu dem machen, wie wir sie gerne hätten – und nutzen dafür jede zur Verfügung stehende Theorie, um uns zu rechtfertigen?

 

Geschichte der Kindheit

Wenn wir im Mittelalter beginnen, nach Kindheit zu forschen, so reden wir nur über die ersten sieben Jahre eines Menschen. Kindheit wurde in erster Linie als Vorbereitung auf das Erwachsenenleben verstanden. Schulen kosteten Schulgeld und waren somit Handwerker- oder Bauernfamilien nicht zugänglich, hier übernahmen die Väter die Ausbildung der Söhne. Dadurch konnten diese sich bald Arbeit suchen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Die Mädchen indes wurden dahingehend ausgebildet, dass sie lernten, den Haushalt zu führen.

 

Die breitere Entwicklung des allgemeinbildenden Schulsystems setzte erst im Spätmittelalter und mit der Reformation ein. So entstanden in den Städten neben den größeren Dom- und Klosterschulen an städtischen Pfarrkirchen Gemeindeschulen, oder Schreibschulen in Verantwortung der Kommunen. Erst ab dem 18. Jahrhundert erfassten die Schulen zunehmend alle Kinder in Stadt und Land. Auch eine schulische Grundausbildung von Mädchen erlangte zunehmend an Bedeutung. Wichtigster Meilenstein in dieser Entwicklung war die Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Nach einigen kleineren Territorien wurde sie zwar für ganz Preußen im Generallandschulreglement 1763 gesetzlich eingeführt, aber nur langsam in den Volksschulen durchgesetzt.

 

Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird der Lebensabschnitt der Kindheit erneut erweitert: Die Zeit der Adoleszenz erfährt in jener Epoche ein neues Maß an Beachtung; doch dauert es noch bis zum 20. Jahrhundert, bis jenes Entwicklungsstadium die Jugend „getauft“ und mit den Charakteristika der Natürlichkeit, Spontaneität und Lebensfreude verknüpft wird. Das Jugendalter nimmt seit jener Zeit „einen größeren Raum ein [...], indem es die Grenze zur Kindheit herabdrückt und das reife Alter später ansetzt" (Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit. 1914. 16. Auflage. München 2007. S.88)

 

Das 20. Jahrhundert ist das „Jahrhundert des Kindes“(angelehnt an den gleichnamigen 1900 erschienenen Roman der schwedischen Pädagogin Ellen Key). Die Beachtung der kindlichen Rechte als Eigenrechte von Kindern ist im 20. Jahrhundert eine Neuerung. "Im Hinblick auf das gewandelte Bild von Kindern findet sich insbesondere in frühen Arbeiten der sich etablierenden Kindheitssoziologie immer wieder der Hinweis, dass Kinder in diesen Konzepten - v.a. in Abgrenzung zu Erwachsenen - nun nicht mehr nur als Werdende, sich erst Entwickelnde, sondern als Seiende im Hier und Jetzt wahrgenommen werden. Es ist ein Charakteristikum der kindheitssoziologischen Forschung, Kinder als aktiv handelnde und interpretierende Subjekte zu begreifen, denen wissenschaftliches Interesse als Kinder und nicht als zukünftige Erwachsene gebührt." (Kränzl-Nagl, Renate und Mierendorff, Johanna: Kindheit im Wandel. Annäherungen an ein komplexes Phänomen. SWS-Rundschau (47.Jg.) Heft 1/2007. S.9)

Kindheit heute, im nicht mehr ganz jungen 21. Jahrhundert, ist eine Kindheit einerseits als Familienkindheit, andererseits als Institutionenkindheit. „Kindheit heute ist eine Erziehungskindheit, um die eine eigene „kindgerechte“ Sozialisationswelt entsteht." (Pfeiffer, Ursula: Kindheit im Wandel. Zur Genese der Kindheit in der Moderne und den Bedingungen des Aufwachsens heute. Vortrag Lutherakademie Sondershausen. Ratzeburg 7.10.2005. S.5)

 

Erziehung im Wandel

Je weiter man in der Geschichte der Kindheit zurückgeht, desto unzureichender und vernachlässigender wird die Pflege des Kindes. Kinder lebten mit den Erwachsenen zusammen, und wurden bald in das Erwachsenenleben ohne Sonderposition integriert. Das Ziel war nicht, das Kind in seiner Welt und mit seinen Bedürfnissen wahrzunehmen, sondern ausschließlich, es als zukünftigen Erwachsenen zu sehen und dahingehend zu erziehen.

 

Dies ändert sich im 20. Jahrhundert, dem "Jahrhundert des Kindes". Während Ellen Key mit ihrer strikt kindzentrierten Erziehung noch in der Theorie bleibt, beginnt Maria Montessori mit der tatsächlichen Erprobung und Umsetzung unkonventioneller Erziehungsmethoden. Die (bei Key) "geträumte Schule" erfährt bei Montessori  eine konkrete Realisierung inmitten der kindlichen Lebenswelt. So wurde in der Reformpädagogik zum ersten Mal das Kind mit seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten in den Mittelpunkt gestellt.

 

Das 20. Jahrhundert erwies sich allerdings auch als eines der Ideologien. Nationalsozialismus und stalinistischer Sowjetmarxismus griffen nach der Erziehung, um sich der Kindheit, Jugend - und somit den zukünftigen Erwachsenen - zu bemächtigen.

 

Eine Zäsur bildete noch einmal Ende der sechziger Jahre die "antiautoritäre Erziehung". Frei von jeder Art von Zwang sollte das Kind sich entwickeln. Man zählte dabei auf die Selbstregulierung des Kindes im Sinne von Selbstbestimmung, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit. Das Experiment der antiautoritären Erziehung erstickte sehr bald an der eigenen Realität, dennoch wirkt es bis heute nach, die heutige Erziehungsdiskussion liebäugelt, distanziert oder vergleicht sich mit ihr.

 

Heute stehen Eltern vor erzieherischen Versagensängsten, ausgelöst durch die Erfahrung und Wahrnehmung von Eltern-Kind-Problemen, die in früheren Zeiten gar nicht wahrgenommen wurden. Und so versuchen wir unseren Kindern so viel wie möglich mitzugeben, um sie auf die Erwachsenenwelt, in der wir uns befinden, und vor der wir uns durch die Komplexität und Kompliziertheit oft fürchten, so gut es uns möglich ist, vorzubereiten. „Eltern erscheinen dabei zunehmend als Laufbahnberater, die weniger den gelungenen Zugang zum örtlichen Sozialmilieu im Blick haben, sondern ihre Erziehung quasi „auf Vorrat“ für mögliche künftige soziokulturelle Laufbahnen konzipieren.“ (Pfeiffer, Ursula: Kindheit im Wandel. Zur Genese der Kindheit in der Moderne und den Bedingungen des Aufwachsens heute. a.a.O. S.10) Die „Über-den-Zaun Gespräche“ wie sie früher Mütter geführt haben und mit Müttern, Schwiegermüttern, Tanten und Nachbarn über Erziehung und Erziehungsprobleme zu sprechen und im gemeinsamen Gespräch, durch Erfahrung der anderen etc. nach Lösungen zu suchen, finden nicht mehr statt. Mütter suchen seltener den Austausch mit anderen Müttern, da dieser meist in einer Art „Wettkampf“ um die eigenen Fähigkeiten als Mutter endet. Statt gemeinsam im Gespräch eine für das Kind adäquate Lösung zu finden, scheint es heute leichter zu sein, Probleme an „Fachleute" und spezielle Berater weiter zu geben, oder sich mit einer der möglichen Informationsquellen alleine Rat zu holen.

 

Bei allem: es geht nicht um uns, sondern darum, die Kinder zu Menschen zu erziehen, die später als Erwachsene selbstbewusst ihr eigenes unabhängiges Leben führen können.

 

Erziehen zum Erwachsenen

Ziel der Erziehung ist es, die Kinder in einen Zustand zu bringen, in dem sie selbständig agieren und leben können. Auch wenn dieser Zeitpunkt individuell (je nach Schul- und Ausbildungslaufbahn, Wohn- und Lebenssituation der Familie o.ä.) unterschiedlich ist, so wollen wir doch nach und nach dabei zusehen, wie Kinder und später Jugendliche und junge Erwachsene ohne unsere Hilfe auskommen. Das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ist das Bedürfnis nach Erwachsenen, die „dem Kind gegenüber abgegrenzt auftreten“ (Winterhoff, Michael: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit. München 2008. S.31),

die das Kind nicht brauchen, sondern es als eigenständige Person, v.a. als Kind wahrnehmen und erziehen. Und nicht nach Erwachsenen, die sich von den Kindern abhängig fühlen und den Gedanken nicht ertragen, ihre Liebe zu verlieren – und sei es nur vorübergehend. „In Wahrheit ist es das Kind, das in einen Zustand absoluter Abhängigkeit hineingeboren wird, die im Laufe seiner Entwicklung allmählich abnimmt, bis es Autonomie und Unabhängigkeit erlangt.“ (Thompson, Caroline: Die Tyrannei der Liebe. Wenn Eltern zu sehr lieben: Perfekte Erziehung und die Ambivalenz unserer Gefühle. München 2008. S.88)

 

Das Kind sukzessive in die Selbständigkeit zu entlassen, Gleichwertigkeit und nicht Gleichberechtigung in der Eltern-Kind / der Erwachsenen-Kind-Beziehung ist für alles weitere eine notwendige Voraussetzung.